
Nerthus - die vanische Erdmutter
Nerthus ist die lateinische Schreibweise für den Namen der Göttin, die durch die berühmte, von Tacitus beschriebene Frühlingsprozession verehrt wurde. Die altgermanische Originalform Nerþuz oder Nerþô ist – mit Ausnahme des Geschlechts – sprachlich identisch mit dem Namen des Vanengottes Njörðr, woraus wir zunächst einmal schließen können, dass auch Nerthus zum Vanenstamm gehört. Das entspricht auch ganz ihrem Wesen. Tacitus bezeichnet sie als „Terra Mater”, Mutter Erde, und spart sich damit eine nähere Schilderung, denn die Mutter Erde wurde auch in Rom verehrt und war seinen Lesern gut bekannt.

Von Emil Doepler
Tacitus berichtet von einem Heiligtum der Nerthus, das „auf einer Insel im Ozean” lag, wahrscheinlich Helgoland („heiliges Land”) oder Rügen. Dort stand ihr „unentweihter”, also als Urwald belassener heiliger Hain, und darin ein mit Decken umhüllter Wagen, den nur ein einziger Priester sehen durfte. Er wusste, wann die Göttin im Wagen erschien. Zwei Kühe zogen dann den Wagen durch die Stammesländer ihrer Verehrer. Wohin die Göttin kommt, herrschen Feststimmung und heiliger Friede, alles Eisen wird weggesperrt. Am Ende der Festzeit werden der Wagen und die Göttin ins Heiligtum zurückgeführt und in einem See gewaschen.
Tacitus schrieb, dass die Knechte, die den Wagen wuschen, danach ertränkt wurden, damit sie seinen Standort nicht verraten konnten – vielleicht auch nur eine Schauergeschichte, die man dem neugierigen Römer erzählte, denn sie steht im Widerspruch zu der Seltenheit, mit der Menschenopfer belegt sind, und zum lebensfrohen Gesamtcharakter des Festes. Es fand beim Erscheinen der lebensspendenden Göttin statt, also zu Frühlingsbeginn. In späteren Maibräuchen wird statt des verhüllten Wagens, in dem nur der Seher die Göttin erkennt, eine junge Frau herumgeführt, die als Priesterin und Vertreterin der Nerthus auf dem Thron sitzt. Oft war es die Stammesführerin.
Nerthus und Njörðr

Von Friedrich Wilhelm Heine
Njörðr ist der Vater von Freyr und Freyja und hat wie Freyr in seiner Gestalt als Yngvi-Freyr oder Ingwaz eine enge Beziehung zum Wasser, vor allem zum Meer. Sein Wohnsitz heißt in der Edda Nóatún, Schiffszaun. Er herrscht über das Meer und den Wind, ist auch reich und kann Reichtum verleihen. In Norwegen sind viele Küstenorte nach seinen Heiligtümern benannt, in Schweden auch Orte im Landesinneren, deren Gegend besonders fruchtbar ist. Njörðr wird bei Seefahrten und beim Fischfang, um Erfolg beim Erwerb und um Hilfe bei Eiden angerufen. Das letztere kommt daher, dass er bei der Versöhnung der Götter nach dem Krieg zwischen Asen und Vanen zur Bekräftigung der Eide, die sie einander geschworen hatten, zu den Asen ging.
Seine Beziehung zum Wasser verbindet ihn ebenso wie sein Name mit Nerthus, deren Heiligtum an einem See auf einer Insel im Meer liegt. Nerthus und Njörðr sind in Wirklichkeit ein Götterpaar wie auch Freyja und Freyr, denn die Vanen sind Zwillingsgottheiten, die ihre polaren Schöpferkräfte immer in weiblicher und männlicher Gestalt zeigen. Der Mythos beschreibt diese Polaritt dadurch, dass sie Geschwister oder Ehepartner oder beides zugleich sind. Die Blutsverwandtschaft erschien den Sehern schließlich als zutreffendere Vision der vanischen Zwillingsnatur: Freyr und Freyja sind Geschwister und mit Partnern aus anderen Sippen verheiratet. Das wird auch von Njörðr berichtet.
Die Ehe von Njörðr und Skaði
Als der Jöte Thjasi Idunn entführt hatte und Loki, in einen Falken verwandelt, die Göttin befreite, verfolgte sie Thjasi in Adlergestalt, bis er von Thor getötet wurde. Er hatte aber eine Tochter namens Skaði, die eine Kriegerin war und gewaffnet vor die Asen trat, um Buße zu fordern. Da ihre Forderung gerecht war, schlugen sie ihr vor, sich zur Versöhnung unter ihnen einen Mann zu wählen. Sie durfte aber nur die Füße sehen und musste sich danach entscheiden. Skadi wählte den Gott mit den schönsten Füßen, von dem sie glaubte, dass es Baldur wäre. Es war aber Njörðr. Die Ehe war unglücklich: Njörðr liebte das Meer, Skaði die Berge, die Jagd und den Schnee. Sie lebten eine Zeitlang abwechselnd je neun Tage am Meer und im Gebirge, doch schließlich trennten sie sich.

Von W.G. Collingwood