Was sind Götter überhaupt ?
Wer sich mit heidnischen Göttern beschäftigt, muß sich von Vorstellungen über Göttlichkeit, wie sie das Christentum lehrt, gründlich befreien. Eine Gottheit im Heidentum ist kein abstraktes, jenseitiges, ewiges, allmächtiges Wesen, das über der Welt schwebt und sie von außen regiert, kein „reiner Geist” und keine moralische Instanz, die ausschließlich das sogenannte Gute verkörpert, kurz: kein Gegenkonzept zur Natur, wie es viele Lehren aufstellen, sondern das Göttliche in der Natur, nicht „ganz anders”, sondern eins mit der Welt. Eine heidnische Gottheit ist kein abstrakter, ewiger Geist in einem imaginären „Reich, das nicht von dieser Welt ist”, sondern eine konkrete, lebendige Wesenheit, die die Wirklichkeit dieser Welt durchwebt, mit ihr lebt und stirbt, in ihr wirkt und sich entfaltet.
Gottheiten zeigen sich uns in der Erfahrung der Natur, in der Begegnung im Kult, in den Mythen, die ihre Persönlichkeit durch ihre Taten enthüllen, und auf manche andere Weise, z.B. Visionen und Träumen. Man kann sie als wirklich und gegenwärtig erleben, doch mit dem Verstand nur begrenzt begreifen. Daher zeigen sie sich uns in Gestalten, die unserem Wahrnehmungsvermögen entsprechen.
Die Götter, die uns die Mythen „menschengestaltig” beschreiben, sind keine Menschen, aber sie teilen mit uns ganz wesentliche Eigenschaften: Sie besitzen Persönlichkeit, Gefühle und Urteilsvermögen, und man kann mit ihnen kommunizieren.
Das traditionelle germanische Heidentum ist eine polytheistische Religion, die in den Göttern keine „Aspekte” einer abstrakten Göttlichkeit sieht, wie es manche esoterischen Lehren tun, die Vielfalt ihrer Persönlichkeiten nicht auf spekulative Phantome wie „den Gott und die Göttin” reduziert und sie schon gar nicht als „Archetypen” psychologisiert oder zu bloßen Symbolen herabwürdigt. Götter und Göttinnen existieren tatsächlich und sind konkrete persönliche Wesen mit individuellen Persönlichkeiten. Die Natur ist vielfältig und besteht aus verschiedenen Wesen und Dingen – daher sind auch die Götter, die in ihr sind, verschieden und vielfältig.
„Jenes Geheimnis, das sie in einziger Ehrfurcht schauen”
Cornelius Tacitus, der im 1. Jh. CE in seiner „Germania” die Stämme und ihre Bräuche beschrieb, berichtet über die Verehrung der Götter:„Sie halten es für unter der Würde der Himmlischen, die in Wänden einzuschließen oder in einer Form des Menschengesichts darzustellen. Wälder und Haine weihen sie ihnen und benennen mit den Namen der Götter jenes Geheimnis (secretum illud), das sie in einziger Ehrfurcht schauen.”
Aus diesem Bericht und aus der Tatsache, dass in den germanischen Sprachen das Wort für „Gott” (gotisch goþ, nordisch góð, ahd. cot ) ursprünglich das grammatikalische sächliche Geschlecht hat, wollten frühere Interpreten, die aus christlichem Umfeld kamen, Hinweise auf einen germanischen Monotheismus herauslesen, nach dem die Götter und Göttinnen der Ausdruck eines Mysteriums wären, das lediglich „mit ihren Namen benannt” würde.
Tatsächlich unterlag Tacitus einem Trugschluss. Er unterlegte den Germanen die römische Vorstellung, dass ein bildloser Kult abstrakt sein müsse, und verstand das sächliche Geschlecht des Wortes goþ nach dem Muster des lateinischen Neutrum, das nur für Sachen und Abstrakta verwendet wird. Im Germanischen ist es aber auch Utrum, d.h. es bezeichnet auch Wesen, die entweder das eine oder das andere Geschlecht haben können, z.B. das Kind, und Gruppen von Wesen beiderlei Geschlechts. goþ wurde stets in der Mehrzahl verwendet. Es bedeutet „die Götter und Göttinnen”, so wie noch im Nordischen: öll góð = alle Götter und Göttinnen.
Richtig verstanden hat Tacitus aber, dass goþ so etwas wie die lateinischen numina sind: geheimnisvoll anwesende heilige Mächte oder Kräfte, die sich erst konkret zeigen, wenn man mit ihnen kommuniziert, sie also „mit den Namen der Götter benennt.”
Göttliche Einheit und Vielfalt
Die Götter und Göttinnen sind also stets eine Vielheit, doch bilden sie trotzdem eine Einheit – nicht als „das Eine” abstrakter Philosophien, sondern ganz konkret vereint durch die Sippenbande, mit denen die Mythen die Verwandtschaften ihres Wesens ausdrücken, und durch das gemeinsame Handeln. Die Edda nennt sie „die Beratenden”, regin, ein Wort, das auch althochdeutsch (regano) überliefert ist und auf eine alte, gemeinsame Überzeugung hinweist. So sehr auch jede Gottheit ihren eigenen Bereich haben mag, z.B. Wodan/Odin die geistigen Kräfte, Donar/Thor die physischen und den Mut, Freyr und Freyja die Sexualität usw., so ist dennoch gewiss, dass sie gemeinsam die Welt lenken und dies genauso tun, wie es – nach ihrem Beispiel geformte – germanische Tradition ist: durch freie, gleichberechtigte Beratung im Thing.
Die Versammlung der Götter, das Thing, eine göttliche Demokratie ist die Einheit, die über allem steht – kein einzelner Herrscher, der alles in Händen hält, und auch kein einziges abstraktes Grundprinzip oder „Absolutes”. Die Einheit der Götter ist das Zusammenspiel ihrer Vielheit in Freiheit, Gemeinsamkeit und gleichem Recht.