Außer den Asen und Vanen gibt es auch Gottheiten anderer oder auch unbekannter Herkunft. Von den Nornen heißt es ausdrücklich, man wisse nicht, woher sie stammen. Keiner einzelnen Götterfamilie zugehörig, weil selbst der Ursprung allen Lebens, ist die Mutter Erde. Loki gehört aber als Blutsbruder Odins den Asen an, kommt aber aus dem Jötenstamm. Hel ist seine Tochter. Nicht eindeutig zuzuordnen sind auch die Disen, die verschiedener Herkunft sein können.
Die heilige Mutter Erde
Von allen Wesenheiten der Natur ist die Erde am heiligsten. Wir verehren sie als natürlich-göttliche Mutter allen Lebens und damit zugleich als Teil der Natur und als Göttin. Der Planet und die Göttin Erde sind eins oder, bildhaft gesprochen, der Planet ist der Körper, die Göttin der Geist der Erde. Aus der Erde sind wir hervorgegangen, die Erde ernährt uns, in die Erde kehren wir wieder zurück. Sie ist zugleich Lebensspenderin, Ernährerin und Todbringerin und wird in allen heidnischen Religionen verehrt – naturgemäß unter vielen Namen und in vielerlei Gestalten.
Auch innerhalb der germanischen Tradition hat die Mutter Erde viele Namen. Der älteste, in altgermanischer Sprache, ist Huldana oder Hludana, d.h. „Huldreiche” oder auch „Herdgöttin”, denn sie wurde schon in der Eiszeit am Feuerplatz und später am häuslichen Herd verehrt. Der nordische Name ist Hlodyn, die Mutter Thors, die auch Fjörgyn (Fruchtspendende) oder Jörd, Erde, heißt. Mit der Mutter Erde identifizierte Tacitus auch die Vanengöttin Nerthus, die in enger Beziehung zum Wasser steht.
Als Mutter allen Lebens schließen wir die Erde in alle unsere Riten ein. Wir feiern grundsätzlich im Freien, direkt auf der Erde, und gießen die Trankopfer auf den Erdboden. Wenn das nicht geht, stellen wir ein Gefäß mit Erde auf. Besonders feiern wir die Erde zu den Festzeiten, die am engsten mit ihren Gaben verbunden sind, d.h. beim Ostara-Fest zu Frühlingsbeginn, bei dem wir ihre erneuernde Lebenskraft aufnehmen und Kraft und Fruchtbarkeit für Vieh und Felder erbitten, und beim Herbstfest, bei dem wir für ihre Gaben danken.
Loki - Jötensohn und Götterbruder
Loki kommt aus dem Volk der Jöten, ist aber zugleich auch der Blutsbruder Odins und gehört deshalb zu den Asen . Als Jötensohn und Götterbruder ist er von einem doppelten, zwiespältigen Wesen: Trickreich, wie er ist, hilft er den Göttern, wenn sie ihn lenken und kontrollieren. In den Mythen der Edda begleitet er besonders oft Thor auf seinen Fahrten und erweist sich dabei als nützlicher Helfer. Im Mythos vom Riesenbaumeister rettet er die Götter, indem er sich in eine Stute verwandelt und den Hengst des Riesen ablenkt.
Es ist aber typisch für Loki, dass er Unheil anrichtet, sobald er nicht unter Führung der Götter, sondern eigenmächtig handelt. Das ist die Wesensart der Jöten, von denen er abstammt. Zugleich aber verkörpert er die andere, dunkle Seite des Geistes überhaupt, die dunkle Seite Odins, seinen „dunklen Bruder”, wie die Kelten sagen würden. Lokis Name ist vielleicht keltischen Ursprungs: Lugh heißt in Gallien und Irland ein Gott, der Odin sehr ähnlich ist. Ein germanischer Namensursprung könnte im Wort „Lohe” liegen, denn Loki ist auch der Gott des Feuers, das wie er unter Kontrolle segensreich, unkontrolliert aber unheilvoll ist.
Auf jeden Fall gehören Loki und Odin zusammen. Das ist wichtig, um die Mythen über Loki richtig zu verstehen, denn sie erwecken sonst vielleicht den Anschein, als wäre er ein „böser” Geist. Das ist Unsinn. Gut und Böse als absolute Gegensätze gibt es im Heidentum nicht. Die dunkle Seite, das Jötenhafte, Destruktive des Geistes, das Loki verkörpert, gehört ebenso zur polaren Ganzheit des Seins und des Göttlichen. Deshalb nehmen die Götter Lokis Taten hin – bis zu dem Tag, an dem er Baldur tötet. Sie fesseln ihn bis zur Götterdämmerung. Dann reißt er sich los und führt, nun ganz Jötensohn, die Feinde der Götter an. Aber auch das ist notwendig: Im ewigen Kreislauf des Werdens wächst aus der Asche der alten die neue Welt.
Loki ist mit der Asin Sigyn verheiratet, seine Kinder aber zeugte er mit der Riesin Angrboda („Angstbringerin”). Es sind die Totengöttin Hel und zwei weltbedrohende Ungeheuer: die Midgardschlange und der Fenriswolf. Lokis größter Feind ist Odins Sohn Heimdall, mit dem er in der Götterdämmerung kämpfen muss.
Hel, die Göttin der Toten
Hel ist die Göttin der Toten und in der Edda eine Tochter von Loki und der Riesin Angrboda, gehört also nach dieser Abstammung zu den Jöten und wird auch nie zu den Asinnen gezählt. Dennoch ist sie eine Göttin, denn ihre Macht über den Tod müssen, wie der Mythos von Baldur zeigt, auch die Asen respektieren . Ins Totenreich der Hel wandern nach der Edda-Überlieferung die Seelen derjenigen, die den „Strohtod”, also auf dem Strohsack eines natürlichen Todes gestorben sind. Es gibt aber auch Überlieferungen, wonach alle Toten, auch die größten Helden , ins Reich der Hel eingehen – sogar Baldur.
Hels Name (altdeutsch Hella ) hängt mit verhehlen zusammen, bezieht sich also nur auf die verborgene Existenz der Toten und hat keinerlei negative Bedeutung. Erst in christlicher Zeit wurde das Totenreich, das wie seine Herrscherin Hel heißt, zur Hölle im Sinn der hebräischen Mythologie – mit dem Hintergedanken, alle toten Heiden, die wie Baldur zur Hel gingen, posthum zur Hölle zu schicken. Auch die Edda beschreibt Hel als ein Reich der Finsternis und des Schreckens, doch diese Beschreibungen dienen nicht zur Schürung künstlicher Ängste, die unbotmäßige „Gläubige” gefügig machen sollen, sondern stellen – soweit es sich nicht um Einstreuungen späterer Zeit handelt – einfach die natürlichen Schrecken des Todes dar, die er nun einmal hat und die unsere Religion erst gar nicht zu leugnen oder zu beschönigen versucht. Wie die Nornen wird Hel respektiert, aber meist nicht mit Riten verehrt. Einige Heiden haben aber auch zu ihr eine Beziehung aufgebaut.
Heidnische Jenseitswelten
Das Reich der Hel ist die sicherlich älteste und ursprünglich allgemein gültige, letztlich aber nur eine von mehreren mythischen Visionen, die das Heidentum über das Weiterleben nach dem Tod hervorgebracht hat. Eine andere ist, wie erwähnt, die Aufnahme in die jenseitigen Reiche Odins und Freyjas, sehr verbreitet ist auch der Glaube an die Wiedergeburt, der in zahlreichen Sagas belegt ist, und das Bewusstsein, dass man in den Nachkommen (was ja kein Glaube, sondern biologisches Faktum ist) und in der Erinnerung weiterlebt. Ein alter indogermanischer Glaube ist die Wiedergeburt in einem direkten Nachkommen. Daher wurden bei Germanen und Griechen Kinder oft nach einem verstorbenen Vorfahren benannt.
Diese Vielfalt mag jemanden irritieren, der nach einer eindeutigen Antwort sucht, es hat aber einen guten Grund, warum das Heidentum diese Antwort scheinbar schuldig bleibt: Wir machen uns nichts vor – der Tod ist Hel, das Verborgene. Er gibt sein letztes Geheimnis nicht preis. Wir können es nur erahnen und respektieren, dass es ein Geheimnis bleibt, dem wir uns auf verschiedene Weise nähern, das wir aber niemals ausloten können. Deshalb haben alle verschiedenen Visionen ihre Berechtigung, ihre Wahrheit und sogar ihre Notwendigkeit: Einem Mysterium, das unser Begreifen übersteigt, können wir uns nicht auf einer Einbahnstraße nähern. Es kann nur viele Wege geben, die verschieden sein können und auch müssen.
Eines haben aber alle heidnischen Jenseitsvisionen gemeinsam: Sie haben nichts mit Lohn oder Strafe zu tun, und sie sind nicht dazu da, dass man das diesseitige Leben nach ihren ausrichtet. Weiterleben ist keine moralische Einrichtung, sondern ein Teil des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen, in dem es den Tod geben muss, damit es Leben gibt. Und das ist am wichtigsten. Im Heidentum geht es vor allem um das Leben vor dem Tod. Es will uns weder Ängste noch Hoffnungen machen, sondern lehren, das Leben zu lieben und den Tod nicht zu fürchten.
Göttinnen in altgermanischer Zeit
Von den Göttinnen, die hier näher beschrieben sind, wurden in altgermanischer Zeit vor allem Frija oder Frea, die mit Frigg identisch ist, Nerethus und Ostara sowie die Disen verehrt. Auch Hel ist unter dem Namen Hella bezeugt. Die Erdgöttin wurde auf Gotisch einfach „Erde” (Erca) genannt, auf Althochdeutsch heißt sie Hludana, was dem nordischen Namen Hloðyn entspricht, oder Huldana, die Huldreiche. Aus Huldana wurde die Frau Holle des Märchens. Ein weiterer Name für sie, Tamfana, weist sie als Spenderin der Fülle (gotisch thamba) aus. Eine im südgermanischen Raum verehrte Göttin, die mit Frigg gleichgesetzt wird, ist Berchta oder Pertha – ein Name, der mit der Rune Perthro und engl. birth (Geburt) zusammenhängt.
Die heiligen Mütter
Im germanisch-keltischen Grenzraum an Rhein und Donau war es auch verbreitet, eine Dreiheit lebensspendender und schützender Göttinnen anzurufen. Lateinische Inschriften auf Steinaltären im römischen Stil nennen diese Göttinnendreiheit die Matrones (Mütter) mit germanischen Beinamen wie Alagabiae (Allgebende), Afliae (Kraftspendende), Arvagastiae (Gastfreundliche) usw. Das sind rituelle Anrufungen der Dreiheit. Ein anderer Begriff, Vatviae, hängt mit dem Wasser zusammen und bezeichnete Quellgottheiten. Wenig bekannt ist über die durch Kulte in Österreich bezeugten Vibes, die von romanisierten Kelten verehrt wurden, aber wohl einen germanischen Namen („Weiber”, damals nicht wertend) tragen.
Disen, Fylgjen und Walküren
Als Disen (nord. Dísir, ahd. Idise) werden verschiedene weibliche Wesen bezeichnet, von denen manche Göttinnen sind, manche nicht. Der Begriff dís bzw. idis bedeutet allgemein „weibliches heiliges Wesen” und kann sowohl Göttinnen (wie in der Zusammensetzung Vanadís, Vanengöttin) als auch Naturgeister, Ahninnen oder Wesen wie die Fylgjen und Valkyren (Walküren) bezeichnen. Das schwedische Dísablót im Februar war ein Opferfest für die Disen, die Land und Stamm schützen und für das Gedeihen von Frucht und Nachkommen sorgen.
Zu diesem Zweck wurden in altgermanischer Zeit die lateinisch Matres oder Matronae genannten Göttinnen-Dreiheiten angerufen, die deshalb ebenfalls zu den Disen gehören. Dier Art ihrer Verehrung zeigt, dass sie Göttinnen sind, als Land- und Stammesschützerinnen und natürlich als Mütter tragen sie aber auch Züge von heiligen Ahninnen, was sich nicht ausschließt – am Anfang des Lebens all unserer Stämme stehen ja die Göttinnen und Götter. Ihnen allen, den göttlichen wie den menschlichen Müttern, gilt der Teil des Julfestes, der altenglisch modraniht, Mütternacht, hieß.
Eindeutig Ahnengeister sind die Fylgjen, deren Name vom nordischen Zeitwort für „folgen” kommt, weil sie „den Generationen folgen”. Sie zeigen sich als Schutzgeister, die von Eltern auf Kinder „übergehen” und den Geist und das Heil der Familie weitertragen, also auch mit der Entwicklung einer Familie wachsen oder aber schwächer werden. Die Fylgja erscheint meist in Frauengestalt, manchmal aber auch als Tiergeist.
Fylgjen von Kriegersippen haben ein kriegerisches Wesen und werden oft zu den Valkyren gezählt, die ansonsten das Kriegerinnen-Gefolge Odins sind, das die gefallenen Krieger auswählt und nach Walhall bringt. Sie erscheinen auch als Todbringerinnen im Kampf – eine Version der auch sonst in den Sagas geschilderten Erfahrung, dass die Fylgja oft erst unmittelbar vor dem Tod wahrgenommen wird.
Andere weibliche Wesenheiten, die ebenfalls Disen genannt werden, sind Naturgeister, die sich im Wachstum der Pflanzen und in der Fruchtbarkeit der Tiere zeigen und zu den Alben gehören.