Als Naturreligion erkennt das germanische Heidentum die Götter und Göttinnen als Wesen, die in der Natur und eins mit ihr sind, kennt aber wie jede Naturreligion auch eine Vielzahl verschiedener, nicht zu den Göttern gehörender Naturgeister und Elementarwesen wie Jöten und Alben, die Macht der Elemente und Gestirne und auch heilige Bäume und Tiere. Über allem steht die Heiligkeit der Natur.
Heidnische Naturverehrung
Die Natur ist heilig. Die Erde und ihre Lebewesen, Meer und Himmel, die Gestirne und die Gesetze des Kosmos, die sich in ihnen zeigen, die Kreisläufe der Jahreszeiten, Nacht und Tag, Wachstum und Fruchtbarkeit, die Berge, Wälder und Wiesen, Seen und Flüsse, Pflanzen, Tiere und Menschen – diese wirklichen Dinge sind es, in denen sich das Heilige zeigt. Seele und Geist, die alles durchdringen, sind kein abgetrennter, außernatürlicher oder „übernatürlicher” Bereich, sondern leben in der Natur und den Dingen selbst. Sie zeigen sich uns in all ihrer Vielfalt in den Gestalten der Götter und Geister, Elementarwesen und Urkräfte, die überall in der Natur gegenwärtig und eins mit ihr sind. Es gibt sie auf allen Ebenen und Entwicklungsstufen.
Das Heilige in allen Dingen
Vor allen mythischen Visionen, die ihr Gestalt geben, tritt uns die Heiligkeit der Natur in den Dingen selbst als namenlos ahnbare Wirklichkeit gegenüber. Wer mit offenen Sinnen durch die Natur geht, hat manchmal, meist ganz spontan, „mystische” Erlebnisse: ein Baum, ein Tier, die Sonne über den Feldern erwecken deine Aufmerksamkeit, und plötzlich wird die Welt seltsam durchsichtig, klar und wie von etwas Geheimnisvollem durchdrungen. Du weißt nicht, was es ist, aber du spürst, dass es groß, wahr und heilig ist – und dass du dazugehörst, ein Teil dieses Großen, Wahren und Heiligen bist, das in allen Dingen und in dir ist.
Solche Erlebnisse sind oft nur Augenblicke. Viele Menschen bemerken sie gar nicht oder verdrängen sie wieder, weil sie darauf gedrillt sind, auf „bloße Gefühle” nicht zu achten. Aber diese Gefühle sind ebenso Erfahrungen wie die Bilder, die unsere Augen sehen. Nur – was erfahren wir hier?
Es ist das noch vage, gestaltlos erahnte, dennoch allumfassend erlebte Geheimnis des Göttlichen, das sich erst später, wenn wir durch weitere Erfahrungen lernen, es zu differenzieren, in seiner konkreten Vielfalt zeigt.
Was wir in der Natur verehren
In erster Linie verehren wir in der Natur jenes Geheimnis des Göttlichen, das wir in solchen Momenten erahnen – den Urgrund und göttlichen Ursprung unseres Seins, der in allen Dingen ist. Wir beten nicht Bäume und Steine an, wie unsere Gegner behaupten, sondern das Mysterium des Seins, auf das sie weisen. Aber Vorsicht: Die Natur besteht nicht aus Symbolen, sondern aus lebenden Wesen. Ihnen begegnen wir konkret, und sie selbst sind uns wertvoll und in diesem Sinn heilig. Denn als Teil der Natur sind wir mit allem Leben, auch dem nichtmenschlichen, spirituell verbunden. Wir gehen respektvoll mit ihm um, achten Pflanzen und Tiere als Mitbewohner der Erde und sind bestrebt, in guter Gemeinschaft mit ihnen zu leben.
Die geistige Dimension, die alles in der Natur besitzt, ist verschieden und vielfältig und zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Bei uns ähnlichen Wesen wie höheren Tieren, z.B. Pferden oder Hunden, zeigt sie sich wie bei uns als individuelle Persönlichkeit. Es gibt aber auch viele Lebens- und Geistformen, die ganz anders als wir sind. Zu ihnen gehören die verschiedenen Arten von Naturgeistern, die wir nicht religiös verehren wie die Götter, aber ebenfalls achten und als Wirkkräfte der Natur auch in Riten berücksichtigen.
Jöten und Thursen
Als Jöten (nordisch: Jötnar, Einzahl: Jötunn) bezeichnen wir nach der Tradition der Edda alle Wesenheiten, die als „Riesen” übersetzt werden – ein Begriff, der zwar traditionell korrekt, aber missverständlich ist, denn die geläufige Vorstellung vom Riesen aus dem Märchen, die sich in christlicher Zeit entwickelt hat, hat mit dem Wesen der Jöten kaum noch etwas gemein.
„Jöten” ist zunächst ein allgemeiner, umfassender Name dieser Wesenheiten, der sie noch nicht nach Charakter und Wirkungsweise unterscheidet oder gar wertet. Im engeren Sinn bezeichnet er diejenigen unter ihnen, die für Natur, Menschen und Götter ungefährlich, oft sogar hilfreich und als Urwesen erfahren und weise sind. Diejenigen aber, die schädlich und zerstörerisch wirken, heißen in der Edda die Thursen (Þursar, Einzahl: Þurs). Eine süddeutsche Bezeichnung ist Enzen, d.h. die „Enteren” (die von drüben), denn sie leben außerhalb der bewohnten und vom Bauern gepflegten Welt in einer Existenzweise, die im Norden Utgard (äußere Welt) genannt wird. Damit ist z.T. wörtlich die Wildnis gemeint, z.T. eine „andere” Dimension, die innerhalb des Weltganzen existiert und immer wieder in die gewohnte Welt „einbrechen” kann – auf der Ebene der Naturphänomene auf drastische Weise z.B. durch einen Schneesturm.
Die Jöten sind die Geister der ungeformten Natur, die als erste Geistwesen entstanden und daher eher mit den griechischen Titanen als mit den Riesen der Märchen zu vergleichen sind. Wie die Titanen sind sie die Vorfahren der Götter: Odins Vater ist der Sohn des aus dem Ur-Eis entstandenen Götterahnen Buri, seine Mutter aber ist die Riesin Bestla. Das bedeutet: auch in den Göttern ist noch das Ungeformte, das Ur-Chaos wirksam, aus dem sie Ordnung und Leben des Kosmos formen („Du musst Chaos in dir haben, um einen tanzenden Stern zu gebären” - Nietzsche). Die Evolution läuft, wie die Physiker wissen, eigentlich gegen den Strom des Universums, der Energieverlust (Entropie) ist: Leben ist ein ständiger Kampf gegen diesen „Kältetod”.
Die Thursen sind daher Wesen der Kälte wie die Hrimthursar, Reifriesen, oder der kristallinen, starren Formen wie der Steinriese Hrungnir. Es gibt jedoch auch Feuerriesen wie Surtur, der aber natürlich kein Geist des wärmenden, sondern des zerstörenden Feuers und der Geist der Lava ist, die zu den Urformen der Welt gehört. Sein Wohnort ist Muspellheim, der Ort, aus dem das Feuer kam, das sich mit dem Eis traf und die Welt formte.
Die Edda erwähnt die Thursen außer als Feinde in der Götterdämmerung fast nur als Gegner Thors, dessen Wesen als Schützer von Göttern, Menschen und allem Leben immer wieder im Kampf gegen diese bedrohlichen Kräfte zum Ausdruck kommt. Vielfältiger zeigt sie das Wesen der anderen Jöten, die ebenfalls Urkräfte sind, aber einen Platz im Gefüge der Welt einnehmen, der für das Leben förderlich oder zumindest unschädlich ist. Ägir z.B. ist der Ur-Geist des Meeres, Skaði eine Riesin der Berge und des Schnees (und zugleich eine Göttin). Viele Jöten wie Mimir, Vafthrudnir oder die Seherin, die Odin erweckt, werden als Weise geschildert. Die weiblichen Jöten, wenn sie nicht von Thursenart sind, werden allgemein als schön und begehrenswert, d.h. als lebensfördernde Urkräfte beschrieben. Einige wirken als weise Frauen wie Gunnlöd, die den Dichtermet hütet und Odin in seine Geheimnisse einweiht.
Alben und Zwerge
Wie die Jöten teilen sich auch die Alben (nordisch: Álfar) in zwei Gruppen, die in der Edda Lichtalben (Ljósálfar) und Schwarzalben (Svartálfar) genannt werden. Die Lichtsymbolik bezieht sich auf ihre förderliche oder schädliche Wesensart. Die Alben wurden von den Göttern geschaffen, um den Bau der Welt zu unterstützen. Ihr jeweiliger Wirkungsbereich ist eng, sowohl seiner Art nach als auch räumlich, z.B. fördern sie in einem bestimmten Wald das Wachstum der Bäume.
Auch die Schwarzalben sind im System des Kosmos wichtig. Sie sind chthonische (unterirdische) Wesen, die im Verborgenen wirken und daher als hinterlistig und oft boshaft, bildhaft als hässlich beschrieben werden. Sie sind meist gemeint, wenn man von Zwergen (nord. dvergar, althd. gizwerc) spricht. Menschen, die sie sehen können (und mit entsprechend geöffneten Sinnen kann das jeder, wenn sie gesehen werden wollen), nehmen sie meist als kleine Wesen wahr, denn klein ist ihr Wirkungsbereich, und so wirkt ihre Gegenwart auch auf uns.
Die Lichtalfen dagegen sind sehr schön, von sonnigem Gemüt und ehrlich. Sie zeigen sich auch als großgewachsene Erscheinungen, denn ihre förderliche Art strahlt aus und lässt sie in den Augen anderer Wesen wachsen. Lichtalben sind respektgebietende Lichterscheinungen, deren Anblick Freude und ein Gefühl der Geborgenheit in der von ihnen bewohnten Natur vermittelt. Wie die Zwerge sind sie scheu und entziehen sich gleich wieder der Wahrnehmung, aber sie üben eine große Anziehungskraft aus. So berichten besonders keltische Überlieferungen, daß Menschen in Ausnahmesituationen den Feen und Elfen, die in vielem den Alben gleichen, in die Anderswelt folgten und nicht wieder zurückfanden.
Alben in Mythen und Heldensagen
Da die Alben die Geheimnisse der Natur kennen und anwenden, werden sie in Mythen und Heldensagen als geschickt, kunstreich, zauberkundig und weise beschrieben. Besonders die Schmiedekunst, die ihre Werkstoffe aus dem verborgenen Alben-Wirkbereich im Erdinneren holt, ist ihnen nahe: Schmiede sind albische Menschen, Alben sind Schmiede. Sie fertigen für Götter und Menschen Schätze und magische Gegenstände, die sie aber oft nur widerstrebend hergeben. Helden, die Alben oder Zwergen Schätze abringen, sind historisch gesehen „Kulturheroen”, d.h. ihre Sagen erinnern an die Ursprünge der Kulturtechniken, die aus der Auseinandersetzung mit den Naturbereichen der Alben entstanden. Mit ihren Schätzen – Gold, heute auch Uran oder Erdöl – muss man vorsichtig sein, denn sie sind von ebenso zwiespältiger Art wie die Alben selbst. Oft liegt ein Fluch auf ihnen.
Vom Mythos zum Märchen
Aus den Jöten und Alben wurden die Riesen und Zwerge der Märchen, die sehr plakativ auf einzelne Merkmale wie die Roheit der Riesen und die Kleinheit der Zwerge reduziert sind. Manche Märchen sind Reste alter Mythen, die in christlicher Zeit ungenau nacherzählt wurden, manche aber pure Fantasy, die es früher genauso gab wie heute. Wer die Märchen kleinen Kindern erzählte, musste sie natürlich ihrem Niveau anpassen, sodass die Stereotypen von Riesen und Zwergen immer kindlicher wurden. Wenn man das berücksichtigt, kann man aus echten Märchen, die aus alten Mythen entstanden sind, durchaus etwas lernen. Auch die Edda enthält, wie jede mythische Dichtung, märchenhafte Elemente, die einfachen Menschen den Zugang zu den tieferen Inhalten erleichtern.
Wald-, Feld- und Berggeister
Überall auf der Welt wird von Geistwesen erzählt, die im Wald, auf Bergen oder den Feldern leben und manchmal den Menschen erscheinen. All diese Erfahrungen werden heute als unrealistisch und unvernünftig abgetan, denn angeblich „wissen wir”, dass es Naturgeister nicht gibt. Das ist aber bloß eine Behauptung. Es müsste heißen: Wir wollen nur das real akzeptieren, was sich physikalisch messen lässt, und daher darf es in der Natur nichts anderes als Materie geben. Diese Ideologie, der Materialismus, ist aber längst überholt: Die Wissenschaft, die er vorschiebt, anerkennt heute die geistige Dimension der Natur und damit auch die Tatsache, dass es etwas Wirkliches ist, das sich in den Naturgeister-Mythen zeigt.
Was es ist, kann naturgemäß nur mythisch-bildhaft erfasst werden, denn es ist klar, dass die Geistigkeit eines Waldes oder Berges von völlig anderer Art als die menschliche ist. Wir können sie uns eigentlich nicht vorstellen. Wenn wir ihr begegnen, reagiert unser Geist auf die ihm eigene Weise, d.h. durch Vergleiche mit Bekanntem. Alles Geistige erscheint uns, weil wir es von uns selbst am besten kennen, wie menschlich und nimmt daher in Vision und Mythos Gestalten an, die menschenähnlich, aber (weil der Unterschied auch erfasst wird) nicht ganz menschlich sind wie z.B. beim Wilden Mann, einem alpinen Waldgeist, dem in England der Green Man entspricht.
Solche Geister sind den Alben ähnlich und werden manchmal – je nachdem, wie man sie erfährt – mit ihnen gleichgesetzt oder, wenn sie sich weniger individuell als die Alben zeigen, von ihnen unterschieden. Im letzteren Fall haben sie im allgemeinen keine eigenen Namen, denn sie sind keine individuellen Persönlichkeiten, sondern entstehen erst aus der Ganzheit einer ganzen Lebensgemeinschaft, wie es ein Wald ist. Sie tragen Gattungsbezeichnungen wie Schrate oder Wichte (nord. vættir). Besonders gut mit Naturgeistern vertraut sind die Isländer, die sie genau unterscheiden und lokalisieren können. Auf Island gibt es sogar staatliche Beauftragte, nach deren Anweisungen z.B. Straßen umgeplant werden, wenn die ursprüngliche Planung eine Landgeisterwohnung verletzt hätte.
Trotz solchen Respekts werden diese Wesen nicht religiös verehrt. Sie sind Erdbewohner wie wir und keine Götter. Wir respektieren sie aber wie alles Leben – sie sind Leben und Geist der Dinge, in denen sie sind. Wer ein Feld aberntet, tötet dabei die Korngeister. Das ist unausweichlich, sollte uns aber, wenn uns die Natur heilig ist, bewusst sein. Im Mythos von Ordrörir berichtet die Edda davon in einer Szene, in der Odin scheinbar grundlos neun Ernteknechte tötet. Er wirft seinen Wetzstein in die Luft, sie greifen danach und köpfen sich gegenseitig mit ihren Sensen. Diese Geschichte ergibt nur Sinn, wenn die Knechte die Korngeister sind, die bei der Ernte sterben müssen. Sie erinnert an den alten Brauch, ein paar Ähren (neun als Symbol der Ganzheit) stehen zu lassen – als Futter für Wodes (Wodans=Odins) Pferd, wie es in Norddeutschland heißt.
Geister der Gewässer
Das Wasser hat als Urelement des Lebens eine besondere Bedeutung. Es ist lebensspendend, reinigend, heilend und, da fließendes Wasser „redet”, auch inspirierend für Dichter und Seher. Ein Teil von Odins Weisheit kommt aus der Quelle Mimirs, die Nornen wohnen an der Urdquelle. In Griechenland ist die Quelle, deren Wasser zum Dichter macht, die vom Flügelross Pegasos geschlagene Hippukrene (Pferdequelle). Auch im germanisch-keltischen Raum sind Quellen in Form eines Hufabdrucks besonders heilig, da sie durch das Pferd, das ihm heilig ist, auch Beziehung zu Odin haben. Ostara ist ebenfalls eine Asengottheit, die mit dem Wasser zu tun hat. An sich aber ist das Wasser ein Element der Vanen und unter ihnen besonders mit Nerthus und Njörd sowie mit Freyr verbunden.
Darüber hinaus hat das Wasser auch seine eigenen Naturgeister, die in den Quellen, Flüssen und Seen wohnen. Manche von ihnen gehören zu den Alben, manche zu den Disen, manche werden als eine besondere Art von Geistern angesehen, von denen die weiblichen Nixen und die männlichen Nicker heißen. Sie haben meist keine Eigennamen, d.h. sind keine ausgeprägten Persönlichkeiten wie die eigentlichen, in Quellheiligtümern verehrten Wassergeister, die oft auch Quellgöttinnen genannt werden und zu den Disen gehören. Die meisten Flüsse haben ebenfalls weibliche Geister, viele aber, z.B. der Rhein oder der Inn, sind männlich. Es gibt allerdings auch dort an vielen Stellen Disen, Albinnen und Nixen wie die Rheintöchter oder die Lorelei. Die keltisch-germanische Erfahrung ist hier differenzierter als die griechisch-römische, die Flüsse generell als männlich wahrnimmt. Gemeinsam ist die Verehrung weiblicher Quellgeister, die bei den Griechen Nymphen heißen. Viele Mythen gibt es über die Geister von stillstehenden Gewässern wie Seen, Teiche und Moortümpel, die je nach Art ihres Gewässers, mit dessen Charakter sie eins sind, freundlich oder verderblich für die Menschen wirken.
Eine in Österreich heimische Art von Wassergeistern sind die Saligen, deren Tradition in Kärnten auf keltische Zeit zurückgehen könnte. Ihr Name kann sowohl vom keltischen Wort für die Weise, irisch saille, als auch vom germanischen sal, Heil, abgeleitet sein, also Weiden- oder heilige Frauen. Die Saligen sind freundliche und hilfreiche Frauen, die sich oft einen menschlichen Mann wählen, ihm aber verbieten, ihr Geheimnis – ihren Namen oder ihre Herkunft – zu erfragen. Deshalb haben sie, obwohl sie individuelle Charaktere sind, keine Namen. Die Ehe mit einer Saligen ist glücklich, aber sobald der Mann nach dem Geheimnis fragt, ist die Salige dahin.
Gestirne und Elemente
Die Kräfte der Gestirne
Sonne und Mond sind die Gestirne, die auf das Leben der Natur den meisten Einfluss haben und deshalb auch in der Naturreligion eine große Rolle spielen. Seit der Bronzezeit ist es vor allem die Sonne, in deren Lauf wir die Göttlichkeit der kosmischen Ordnung erfahren, deren Licht und Wärme uns die lebensspendenden, heilbringenden und auch im übertragenen Sinn erleuchtenden Kräfte des Himmels offenbart. Die Sonne steht für die göttliche Ordnung im Kosmos, für Licht, Heil und Leben, aber auch für den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, der sich im Sonnenrhythmus von Tag und Nacht, Sommer und Winter zeigt. Daher ist sie mit der Göttin der heiligen Ordnungen, Frigg, verbunden, hat aber auch eine eigene Göttin, Sunna (nordisch Sól), die im Zweiten Merseburger Zauberspruch eine der Schwestern Frijas (Friggs) ist.
Ein wichtiger Rhythmus ist aber auch der des Mondes, dessen Einfluss auf das Leben heute viel beachtet wird. Schon unsere Vorfahren berücksichtigten die Mondphasen (was wachsen soll, bei zunehmendem Mond beginnen usw.) und rechneten nach Mondmonaten (Neumond = neuer Monat). Obwohl in der Edda neben Sól (Sonne) auch Máni (Mond) als mythisches Wesen erwähnt wird, gibt es keine Hinweise darauf, dass der Mond kultisch verehrt wurde. Die Vorstellung einer Mondgöttin („Mondin”) ist gänzlich unmöglich, da der Mond im Germanischen männlich ist. Neuheidnische Kulte, die sie pflegen, unterliegen einem Import aus dem Süden.
Elemente: Feuer und Eis
Die Elemente der kultischen Tradition sind natürlich nicht die chemischen, sondern Grundformen der Natur, von denen es vier gibt: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Wenn man im Ritus diese Elemente anspricht und in Handlungen einbezieht, erfasst man symbolisch die gesamte Natur, die nach der Edda aus dem polaren Zusammenwirken von Feuer und Eis (Wasser) entstanden ist.
In der heidnischen Naturverehrung ist vor allem das Wasser wichtig, denn es spendet Leben und ist eng mit der Erde verbunden. Viele heilige Plätze sind Gewässer oder liegen an ihnen. Gewässer haben auch eigene Wesenheiten, z.B. Quellgeister. Das Feuer kann als Quelle von Licht und Wärme die Sonne vertreten (wie im Sonnwendfeuer), ist aber auch an sich heilig, denn es vereinigt heilvolle und unheilvolle Wirkungen und verkörpert so die Polarität des Seins. Feuer ist symbolisch die „Lebensflamme” und das Element der Verwandlung auch im geistigen Sinn. Deshalb bevorzugen viele die Feuerbestattung: so soll dem Toten ein neues, verwandeltes Leben entstehen. Ein Feuer brennt auch bei allen heidnischen Festen.
Heilige Bäume und Tiere
Im Heidentum werden Tiere und Bäume nicht „angebetet”, aber auch nicht als bloße „materielle Dinge” betrachtet, sondern als lebendige Wesen mit Geist und Seele erkannt, in denen sich das Göttliche in der Natur auf besondere Weise zeigt. „Alles ist voll von Göttern” – das Göttliche ist auch in uns und ebenso in den anderen Wesen, die wie wir ein Teil der heiligen Natur sind.
Bäume sind Heiligtümer
Der heidnische Baumkult umfasst mehrere Aspekte, die zwar zusammen gehören, aber jeder für sich bewusst sein sollten. Einer betrifft den Baum als lebendes Symbol oder besser Heiligtum einer Gottheit, der er geweiht ist, z.B. die Eiche dem Gott Thor. Hier verehren wir durch den Baum die Gottheit, deren Eigenschaften er in gewissem Maß spiegelt, ähnlich wie in menschengestaltigen Götterbildern nicht die Bilder selbst, sondern die dargestellten Götter verehrt werden.
Damit eng verbunden ist die Fähigkeit der Bäume überhaupt, uns göttliche Zusammenhänge und Lebensprinzipien zu vermitteln. Die Bäume reden mit uns, sagen die Indianer. Der deutsche Dichter Hermann Hesse schrieb: „Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.”
Deshalb ist die traditionelle germanische Kultstätte der Wald, dessen Name mit woð, der gesteigerten Geisteskraft, von der Wodan (Odin) seinen Namen hat, zusammenhängt und im Englischen (wood) sogar identisch ist. Im Wald verehren wir die Götter und meditieren wir in der germanischen Tradition des „Draußensitzens” (útiseta).
Baumgeister
Wie alles Lebendige ist auch ein Baum ein geistiges Wesen, d.h. er besitzt genauso Geist wie ein Mensch oder Tier. Dass Pflanzen Gefühle haben und kommunizieren können, ist heute wissenschaftlich nachweisbar, doch dieser Pflanzengeist hat naturgemäß eine ganz andere Struktur als unserer. Bäume haben keine menschlichen Gefühle, aber etwas, das wie unser Gefühlsleben abläuft. Unser Bewusstsein erlebt Pflanzengeister daher intuitiv „menschlich”. Ein so erlebter Baumgeist ist also kein „zusätzliches” Wesen, das den Baum bewohnt wie ein Vogel, sondern der Geist des Baumes selbst. Als Trägerinnen des Lebens sind die Baumgeister weiblich, in Griechenland Baumnymphen (Dryaden). Da weibliche Geistwesen germanisch Disen (nord. Disir) heißen, können wir sie Baumdisen nennen.
Magische Bäume
Viele Bäume sind auch deshalb heilig, weil sie heilende, Körper und Geist stärkende, reinigende oder magische Prozesse unterstützende Kräfte haben. Naturheilkunde und Magie sind nicht genau zu trennen, denn immer sind es Naturkräfte, die eingesetzt werden, egal ob wir z.B. aus Lindenblüten einen Heiltee brauen, eine Eiche umarmen, um durch ihre Aura der Stärke gekräftigt zu werden (gut nach Erkrankungen), oder einen Kultplatz mit Haselstecken abgrenzen, um einen magischen Schutzkreis um ihn zu ziehen. Diese Kräfte sind keine irrealen „Wunderkräfte”, sondern in der Natur der Bäume.
Eiche, Esche und Eibe sind als Götterbäume, Repräsentanten des Weltbaums und Heilpflanzen die wichtigsten heiligen Bäume. Obwohl sie nicht wirklich ein Baum ist, zählen wir auch die Mistel dazu, die als Heilpflanze dient und von den Druiden „Allheil” genannt wurde. Die Runen heißen ebenfalls „Bäume”. Die Kelten benutzten an ihrer Stelle das Ogham-Alphabet, dessen Zeichen durchgehend nach Bäumen benannt sind.
Das Heidentum und die Tiere
In allen Naturreligionen haben Tiere große Bedeutung, denn sie stehen als individuell-persönliche Wesen dem Menschen am nächsten. Wir können sie bei entsprechender Bekanntschaft gut verstehen, haben viele Eigenschaften mit ihnen gemeinsam und können in ihnen unser eigenes Wesen oder bestimmte Züge davon gespiegelt sehen. Diese Verwandtschaft hilft uns, die Einheit allen Lebens und mit ihr das Göttliche zu erkennen, das um uns und in uns zugleich ist.
Tiergötter und Göttertiere
Im Spiegel der Tiere zeigte sich unseren frühesten Vorfahren die Göttlichkeit der Natur, die sie sonst nur gestaltlos ahnen konnten, erstmals in klarer, verstehbarer Gestalt, und sie erfuhren in diesen verwandten Wesen auch die angeborene Göttlichkeit des eigenen Selbst. So erschienen die Götter zuerst in Tiergestalt: Sie offenbarten ihr Wesen beispielhaft in den Eigenschaften einiger Tierarten, die ihnen wesensverwandt sind.
Je klarer im Lauf der religiösen Entwicklung die Persönlichkeiten der Götter erkannt wurden, je differenzierter und feiner sie zu Bewusstsein traten, kurz: je näher unsere Vorfahren den Göttern kamen, umso mehr zeigten sie sich in menschlicher Gestalt. Tiere können jetzt nur noch einzelne Aspekte einer Gottheit ausdrücken, deren ganzes Wesen in einer größeren, umfassenderen Vision erscheint. Sie werden die heiligen Tiere dieser Gottheit – man verehrt in ihnen die Gottheit, der sie geweiht sind.
Tiergestalten im Mythos
Während in archaischen Naturreligionen wie der indianischen kosmische Zusammenhänge sehr oft durch Tiermythen geschildert werden, in denen Tiere selbst die Hauptpersonen sind, kommen in den höherentwickelten Götterreligionen mythische Tiergestalten fast nur in Verbindung mit Gottheiten vor: als ihre Begleiter , die bestimmte Eigenschaften dieser Gottheiten verkörpern, und als Tiere, in die sich Götter im Mythos verwandeln und in deren Gestalten sie sich den Menschen zeigen. Tiergestalten, die keiner Gottheit zugeordnet sind, gibt es in unseren Mythen selten. Sie sind eher symbolisch zu sehen wie die Tiere, die Yggdrasil bedrohen, die Wölfe der Finsternis, die Sonne und Mond verfolgen. oder die Ur-Kuh Audumla, die das mütterliche Lebensprinzip verkörpert. „Phantastische” Tiere wie der Drache verkörpern komplexe Inhalte, die ein „gewöhnliches” Tier nicht ausdrücken kann.
Krafttiere und Tiergeister
Da das Göttliche überall in der Natur ist, kann prinzipiell jedes Tier, das für dich eine besondere Bedeutung hat (aus welchen Gründen auch immer), ein heiliges Tier für dich sein. Für viele ist es das ererbte Totem des Stammes, nach germanischer Tradition meist das Pferd, oder ein Tier ihrer Lieblingsgottheit, z.B. Odins Rabe oder Freyjas Eber. Du kannst auch ein eigenes, ganz persönliches Totem haben, das dir wie den Indianern bei einer Visionssuche begegnen kann.
Im Schamanismus werden manche Tiergeister als Krafttiere bezeichnet, d.h. sie sind imstande, die physischen, psychischen und geistigen, auch magischen Kräfte eines Menschen zu unterstützen, wenn er die richtige Art Kontakt mit ihnen aufnimmt. Man muss aber die Tiere gut kennen, um zu wissen, welche Kräfte sie wirklich in sich haben und weitergeben können. In den meisten Fällen sind es Wildtiere, deren Geist sich bei einer schamanischen Reise als Krafttier des Reisenden zu erkennen gibt.
Tieropfer
Unsere Vorfahren opferten Tiere auch den Göttern – ein Brauch, der früher durchaus gerechtfertigt war. Denn das Opfertier wurde in einem symbolischen Gemeinschaftsmahl mit den Göttern von der Festgemeinde verspeist. Schon immer mußten Tieropfer angst- und schmerzfrei sein, das Opfer galt als nicht angenommen, wenn das Tier litt oder zu fliehen versuchte.
Wir lehnen daher Tieropfer schon deshalb ab, weil die wenigsten Leute schlachten oder auch nur dabei zusehen können. In einer Zeit, da viele Tierarten bedroht sind und Schlachtvieh als „Sache” betrachtet und aus Profitgier gequält wird, wären Tieropfer auch ein falsches Signal. Das Heidentum muss beitragen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Anerkennung der Tiere als Mitwesen mit Geist und Seele zu fördern. Tieropfer sind auch nicht nötig, denn das wichtigste war immer schon das Trankopfer – und heute ist den Göttern, die das bedrohte Leben der Erde schützen wollen, Met erst recht lieber als Blut.