In vielen Kreisen des neuen Heidentums herrscht eine Vorstellung von Priestern, die von Vorbildern wie indischen Brahmanen, keltischen Druiden oder geheimnisvollen Eingeweihten okkulter Mysterien und unbewusst auch vom Bild des christlichen Priesters und Theologen bestimmt wird. Priestertum wird dabei oft als persönliche Sache gesehen, als eine Art Rang oder Reifegrad spiritueller Entwicklung, die in erster Linie den Priester oder de Priesterin selbst betrifft und sie als einzelne über die Menge gewöhnlicher Heiden hinaushebt.
Dergleichen ist aus der germanischen Tradition nicht zu begründen. Priestertum ist in ihr nirgendwo als persönliche Sonderstellung und Einweihungsgrad, sondern immer nur als ein Amt der Gemeinschaft bezeugt, die Priester und Priesterinnen einsetzt, um Aufgaben im Dienst der Gemeinschaft zu übernehmen. Die Frage ist also nicht: Welches Wissen, welche Fähigkeiten, welche Weihen müssen Priester haben? Sondern: Wozu braucht die Gemeinschaft Priester?
Gewiss nicht, um Lehren zu verkünden, denn das germanische Heidentum ist kein Glaube an Lehren, sondern eine Kultreligion, in deren Mittelpunkt die Verehrung der Götter steht. Die Götter aber sind die Götter aller und nicht bloß einzelner Eingeweihter. Jeder kann gleich- und vollwertig mit ihnen in Kontakt treten, jeder hat auch die gleiche Ehrenpflicht, ihnen ihre Gaben mit Gebeten und Opfern zu vergelten. So kann jeder allein seine persönlichen Rituale abhalten. Man braucht also auch keinen Mittler zu den Göttern. Jeder steht selbst und die Gemeinschaft als ganze vor ihnen. Sie braucht lediglich jemanden, der ihre gemeinsamen Rituale organisiert und leitet.
Genauso stellt sich das germanische Priestertum in den historischen Quellen dar. Die kleinste natürliche Kultgemeinschaft ist die Familie, in der bei unseren Ahnen, wie Tacitus berichtet, der Hausvater (pater familiae) die Riten leitete. Tacitus beschränkt diese Aufgabe auf die privaten, während er bei öffentlichen Riten Stammespriester (sacerdotes civitatis) erwähnt. Diese hatten auch einzelne rechtliche Aufgaben, unterschieden sich ansonsten aber, da Tacitus weitere Besonderheiten gewiss ebenfalls erwähnt hätte, nicht von den römischen Priestern, die seinen Lesern vertraut waren. Das heißt, sie waren weder religiöse Lehrer noch “Seelsorger”, spirituelle Führer oder “Eingeweihte”, sondern reine Kultpriester, deren Aufgaben sich auf den rituellen Bereich beschränkten.
Darauf weisen auch die meisten germanischen Bezeichnungen für “Priester” hin, vor allem im Althochdeutschen: harugari und parauuari sind Männer, die am Altar (harug) bzw. Heiligtum (paro) tätig sind, bluostrari bedeutet “Opferer” und êwarto bzw. êwawarto oder êsago sind der Wart oder Sprecher der êwa. Die letzteren Bezeichnungen sind auch im Angelsächsischen (æwawart) und Altfriesischen (âsega) überliefert und betonen mehr die rechtliche Funktion: êwarto und êsago sind verantwortlich dafür, dass die rituellen Pflichten erfüllt werden, und erklären, wie das zu geschehen hat; der friesische âsega ist überhaupt ein Rechtspfleger. Die Rechtsprechung gehörte auch zu den Aufgaben der isländischen Goden (nordisch goði, Mehrzahl goðar, für Frauen gyðja, Mehrzahl gyðjur), deren Amtsbezeichnung in heutigen Heidenkreisen der geläufigste Ausdruck für “Priester” ist.
Obwohl goði wie auch die älteren Formen gudja auf Gotisch und cotinc auf Althochdeutsch “jemand, der mit den Göttern zu tun hat” bedeutet und die Goden die Verwalter, in der Regel auch Besitzer der Heiligtümer waren und die gemeinschaftlichen Riten ihres Bezirks leiteten, können sie aber nur bedingt als Priester bezeichnet werden, da sie, wie Bernhard Maier feststellt, “auf Island vor allem als politische Führungsschicht in Erscheinung treten und Aussagen über ihre einstigen religiösen Funktionen zumindest teilweise auf der Rückspiegelung christlicher Verhältnisse in die heidnische Vorzeit beruhen.”
Wie auch die meisten Religionsforscher vor ihm schließt Maier, dass es einen Priesterstand mit Ausbildung und Weihe, religiöser Lehrautorität oder privilegierter Mittlerfunktion zwischen Göttern und Menschen bei den Germanen nie gegeben hat. So sagt der Sorbonne-Professor Régis Boyer auch über den isländischen Goden, der von fantasievollen Neuheiden so gern mystifiziert wird, dass er “im eigentlichen Sinn” kein Priester war, weil er “nie einem speziellen Orden, einer Kaste oder einer Gemeinschaft angehörte und demgemäß weder eine spezielle Ausbildung noch eine Weihe empfing. In dieser Religion ohne Dogma, ohne “Glauben”, ohne heilige Texte, die bekannt wären, und auf ein schlichtes Ritual beschränkt, das bei seltenen Gelegenheiten … begangen wurde, bestand kein echter Bedarf an einem eigens dafür ausgebildeten Priester.”
Der Verein für Germanisches Heidentum lehnt es daher auch für unsere Zeit ab, eine “Priesterschaft” oder einen Kreis von “Eingeweihten” nach Kriterien zu schaffen, die im besten Fall spekulativ sein können. Die historisch gesicherten priesterlichen Funktionen – die Tätigkeit des Ritualleiters und die Wahrung der rituellen Gesetze, die allein Aufgabe eines Priesters im traditionellen heidnischen Sinn sind – kann jeder übernehmen, der sich dazu in der Lage sieht und das Vertrauen der Gemeinschaft hat.
Wir vertreten daher das Volks- und Wahlpriestertum. Jeder kann für sich allein oder im Kreis seiner Familie alle Rituale selbst durchführen. Für die Organisation und Leitung gemeinschaftlicher Riten werden darin erfahrene Personen gewählt, die wir Blótmänner und Blótfrauen nennen. Zu diesen eigenen, in keiner anderen Heidengemeinschaft verwendeten Bezeichnungen haben wir uns entschlossen, um jedes Missverständnis über ihre Funktion auszuschließen: Es sind diejenigen, die das Blót leiten. Sie sind weder Mittler noch religiöse Lehrer und haben keine Weihe, höheren Grade oder ähnliches.
Die Blótleute werden mit mindestens vier Fünfteln der Stimmen aller Mitglieder ihrer jeweiligen Kultgemeinschaft – der Gilde, aber auch eines Herds oder einer Gruppe, wenn sie dies wünscht – für zwei bis fünf Jahre gewählt, verpflichten sich durch einen Eid, ihre Aufgabe in Treue zur Gemeinschaft und den Göttern zuverlässig zu erfüllen, und sind an die Regeln ihrer Amtsführung gebunden, die in der Satzung des VfGH festgelegt sind.
Alle Blótleute sind gleich und unterstehen keinem “Oberpriester”, es gibt aber “ex officio” im Vorstand des VfGH die Position des “Ewart” – oder “Ewartin”, wenn eine Frau gewählt wird. Diese hat die Aufgabe, das gemeinsame Ritualwesen des VfGH aufgrund der bestehenden Traditionen festzulegen und zu organisieren, die Blótleute zu unterstützen und über rituelle und religiöse Fragen zu informieren.