Rituale sind das traditionelle Herzstück des Heidentums. Es ist keine dogmatische Religion, die den Glauben an ihre Lehren in den Mittelpunkt stellt, sondern eine lebendige Beziehung zu den Göttern, der Natur und allem Heiligen, die sich tätig verwirklicht. Es ist nicht Theorie, sondern Praxis. Heide sein heißt das Heidentum auszuüben.
Der VfGH hat das historische germanische Ritualwesen, soweit es überliefert ist, eingehend studiert und aus Altem und Neuem, das die oft beträchtlichen Lücken der Überlieferung schließen muss, eine eigenständige Ritualtradition entwickelt, die für seinen Weg des traditionellen germanischen Heidentums in heutiger Zeit typisch ist und sich in langjähriger Praxis bewährt hat.
Hier stellen wir euch die wichtigsten geistigen Grundlagen, Regeln und Beispiele dieser Ritualtradition vor. Eine solche Vorstellung kann aber niemals die Praxis ersetzen. Wie zur Zeit unserer Vorfahren müssen auch wir heute durch die Erfahrung lernen. Der beste Weg dazu ist die Teilnahme an gemeinsamen Festen.
Wesen und Sinn von Ritualen
Das germanische Heidentum ist wie alle alten Religionen kein “Glaube”, wie ihn Christen oder Moslems verstehen. Die Götter, die ebenso unzweifelhaft existieren wie die Natur, der sie angehören, haben es weder gefordert noch jemals nötig gehabt, dass man an sie “glaubt” und sich zu Lehren bekennt, die vorschreiben, wie man sie sich vorzustellen hat. Was der einzelne glaubt oder denkt, steht ihm im Heidentum frei. Es verlangt aber, dass er den Göttern die ihnen gebührende Ehre erweist.
Rituale sind deshalb nicht bloße “Äußerlichkeiten”, auf die es weniger ankäme als auf die “innere Einstellung”, und sie sind auch nicht nur ein Ausdruck des Heidentums, wie ein Wort ein Gefühl ausdrückt. Sie sind vielmehr das Heidentum selbst – nicht das ganze, aber der Hauptteil und Kern einer Religion, die im wesentlichen eine Kultreligion ist: Der Kult, das Ritual ist der Ort, wo wir den Göttern begegnen.
Die rituelle Erfahrung
Als Erfahrungsreligion, die für die überall wirkenden Götter in jeder Form offen ist, kennt das Heidentum zwar auch andere Wege, um sie zu erfahren. Der wichtigste und für alle gleich gangbare aber ist die Erfahrung ihrer Gegenwart im Ritual. Hier kommunizieren wir mit den Göttern und sie mit uns, und wir tun es in einer Weise, an der jeder teilhaben kann. Vom ersten Tag an kann jeder, der den Göttern opfert, sie auch erfahren.
Die Begriffsbildung unserer Vorfahren zeigt, dass das Ritual für sie die Schlüsselerfahrung war. Das Wort “Gott” (ursprünglich guth oder goð – ein Mehrzahlwort, also “Götter”, mit dem grammatikalisch sächlichen Geschlecht, weil es Götter und Göttinnen umfasst) kommt aus dem indogermanischen Partizip *ghutom, das “angerufen” bedeutet. Die Götter sind also “die Angerufenen”: jene Wesen, die sich offenbaren, wenn man sie anruft.
Die Heilswirkung des Rituals
Neben der Erfahrung der Götter vermittelt das Ritual natürlich auch Heil. Dies ist kein vom natürlichen Leben abgelöstes, begrenztes “Seelenheil”, denn im Heidentum als Naturreligion ist nicht nur die Seele wichtig. Religiöses Heil – Kraft und Segen der Götter – ist vom irdischen Glück und Wohl nicht zu trennen. Im einfachsten Sinn ist Heil die Gesundheit, im weiteren das Heil-Sein im Sinn von Ganz-Sein, Glück und Gelingen des ganzen Lebens in allen Bereichen. Deshalb ist auch die Heilswirkung des Rituals umfassend und ebenso irdisch und handfest wie spirituell.
Im Ritual erhalten wir Anteil am Heil der Götter, denen wir in ihm begegnen, und am Heil, das alle Teilnehmer als einzelne oder Sippen, aber auch die Festgemeinschaft als ganze hat. Wir nehmen auch das Heil auf, das in alten Kultstätten oder natürlichen Kraftplätzen, in den rituellen Geräten, die durch vielmalige Verwendung geheiligt sind, und in den Ritualen selbst liegt, und schließlich das Heil der Ahnen, denen wir nachfolgen.
Da das germanische Heilskonzept ganzheitlich ist, geht es – von rein persönlichen Ritualen abgesehen – nie um das isolierte Heil des einzelnen, sondern immer um Größeres: Heil für unsere Sippe und Gemeinschaft, unser Land und seine Natur. Auch wer ein kultisches Ritual, z.B. ein Jahresfest, allein feiert, tut es nicht nur für sich.
Verbindung mit Ahnen, Erde und Göttern
Ein weiterer Sinn religiöser Rituale liegt darin, dass sie verbinden und bestehende Bindungen pflegen und stärken. Nicht nur zwischen den Teilnehmern, sondern vor allem zwischen ihnen und den Göttern, der Natur und den Ahnen, aus denen wir hervorgegangen sind. “Re-ligio” kann auch als “Rück-verbindung” zum heiligen Ursprung gedeutet werden. Im Heidentum liegt er in der Erde und Natur, in den Göttern, die in der Natur sind, und in den Ahnen, die uns durch die Kette der Generationen, die bis zum Anfang allen Lebens zurückreicht, mit Göttern und Erde verbinden. Wir sind nicht bloße Geschöpfe eines fremden “Handwerkers”, sondern als Kinder der Erde auch Angehörige unserer Götter.
Heidentum ist also kein Glaube an die Götter, sondern eine Verwandtschaftsbeziehung zu ihnen.
Sie sind unsere Freunde im alten Sinn dieses Wortes, das ursprünglich Verwandte bezeichnete. Diese Freundschaft ist unser natürliches Erbteil als Angehörige der Götter. Sie muss im Ritual nicht erst hergestellt, aber gepflegt und immer wieder gestärkt und erneuert werden – so wie wir auch zwischen Menschen die Freundschafts- und Sippenbande pflegen: durch Zusammenkünfte, Geschenke, gemeinsames Essen und Trinken. In der Religion sind dies die Feste mit Opfergaben, Opfermahl und Trankopfer.
Das heilige Fest
Das religiöse Ritual des germanischen Heidentums hat seinen Ursprung nicht in dunklen Mysterien, die einer komplizierten esoterischen Deutung bedürfen. Es wurzelt in den Bindungs- und Festbräuchen unserer Ahnen, wie es sie auch im zwischenmenschlichen Bereich gab, und in der hohen, ja heiligen Bedeutung, die dabei die Tischgemeinschaft, das Zutrinken, Geschenke und ehrende Reden hatten.
Das traditionelle germanische Kultritual ist ein heiliges Fest, zu dem wir die Götter als unsere Freunde und Wohltäter einladen und das wir ihnen zu Ehren feiern. Es ist eine Begegnung mit ihnen in feierlicher Gemeinschaft und ein Akt ihrer Verehrung, die keine “Anbetung” in Demut und Unterwerfung ist, sondern die Ehre, die Freunde in Freiheit und Würde den Freunden erweisen.
Das traditionell wichtigste Mittel dazu bestand darin, zu ihren Ehren zu trinken. Das Wort blót (nordisch) oder bluostrar (althochdeutsch) für ein religiöses Fest, ist mit nordisch blótna, nass werden, verwandt und bezeichnet ursprünglich das Trankopfer. Schon im Gotischen gewann das Zeitwort blotan die allgemeine Bedeutung “verehren”.
Êwa – der heilige Vertrag
Warum aber verehren wir die Götter? Weil sie großartige Wesen sind, die es verdienen, aber natürlich auch, weil sie uns ihr Heil geben und uns zahllose Segnungen schenken. In der germanischen Tradition ist es Ehrensache, Geschenke zu erwidern. “Die Gabe will stets Vergeltung”, sagt die Edda in den Strophen des Hávamál, die vom Opfern und Beten handeln. Das Opfer wurde neben blót bzw. bluostrar auch gildi bzw. gilt oder gelt genannt – wörtlich “Vergeltung”. Es ist der Dank, den wir den Göttern für ihre Gaben schulden.
Ihn abzustatten, ist “Recht und Sitte” (lög ok siðr), wie die Isländer den ihnen fremden Begriff “Religion” umschrieben. Im Althochdeutschen ist überliefert, um welche Art Recht es dabei geht: um êwa, ein Wort, das heute noch in “Ehe” weiterlebt und wie sie einen Vertrag auf Gegenseitigkeit meint: Ich halte dir die Treue, du hältst sie mir.
Die Êwa verbindet uns mit den Göttern in gegenseitiger Treue, mit der sie uns ihre Gaben schenken und wir sie ihnen mit Gebeten und Opfern vergelten. Heidentum ist ein heiliger Vertrag, der zwischen den Göttern und unseren Ahnen bestand und den heute jeder, der sich wieder den Göttern zuwendet, von neuem schließt.
Wenn Nichtheiden über heidnische Rituale, besonders Opfer, sprechen oder schreiben, ist häufig davon die Rede, dass sie dazu dienen würden, die Götter “günstig zu stimmen” oder zu “besänftigen”. Das ist eine weit verbreitete Deutung, aber sie hat ihren Ursprung nicht im Heidentum, sondern in der biblischen Vorstellung eines Gottes, der den Ungehorsam der sündigen Menschheit mit ständigem Groll verfolgt und sich allen späteren Beteuerungen seiner Liebe zum Trotz nur dann wohlwollend zeigt, wenn er durch Demutsgesten und Sühneopfer besänftigt wird. Mag sein, dass auch andere antike Völker zu ihren Göttern ein ähnliches Verhältnis der Angst und des Misstrauens hatten. Den Germanen war es fremd.
In unserem Heidentum herrscht zwischen Göttern und Menschen im altgermanischen Sinn des Worts Frieden: ein Zustand familiärer Freundschaft und Wohlgesinntheit, der in gegenseitiger Treue gefestigt ist und nicht immer wieder neu erkauft werden muss. “Familiär” ist dabei wörtlich zu verstehen, denn die germanischen Begriffe von Frieden und Freundschaft sind direkt aus dem Zusammenhalt in Familie und Sippe abgeleitet: Freunde (nordisch freyndur) sind, wie schon im 19. Jahrhundert der dänische Kulturforscher Vilhelm Grønbech festgestellt hat, ursprünglich nur die Blutsverwandten. Erst später heißt in einigen Sprachen – etwa im Deutschen und Englischen, während die nordischen Sprachen dafür das eigene Wort vinur (dänisch ven, schwedisch vän) behalten – auch ein Sippenfremder ein Freund, wenn er wie ein Verwandter zu uns hält.
Dieses Verhältnis familiärer Freundschaft, von dem wir noch sehen werden, dass ihm auch eine tatsächliche Verwandtschaft zugrunde liegt, verbindet uns auch mit unseren Göttern. “Wodan ist kein Herr, und seine Kinder sind keine Diener”, antwortet Hagen in einem der Nibelungenromane von Stephan Grundy einem christlichen Priester. Die Romanfigur Hagen hat es besser durchschaut als die historischen Germanen, die den Begriff “Herr” nur vom Gefolgsherrn (ahd. trûhtin, nord. dróttinn) kannten, dem seine Krieger als freie Männer folgten, und daher meinten, auch dem “here Krist” derart frei und ehrenvoll dienen zu können. Der Gott der monotheistischen Religionen aber ist ein “Herr” im Sinn des lateinischen dominus: ein Besitzer von Sklaven, die ihm bedingungslos unterworfen sind und ihren erzwungenen Dienst in blindem Gehorsam und Demut verrichten.
Gottesdienst in diesem Sinn sind unsere Rituale nicht: Wir ehren die Götter, aber wir dienen ihnen nicht. Umgekehrt ist das Ritual aber auch kein Versuch, die Götter zu bestechen oder gegen ihren Willen zu beeinflussen und zu manipulieren. Das wäre gegen ihre Ehre – und Ehre steht unter Germanen ganz oben.
Der germanischen Tradition fremd ist ferner die Meinung, religiöse Rituale wären magisch zu verstehen. Die germanische Magie (seiðr) arbeitet nicht wie die orientalische mit Göttern und Geistern, die regelrecht gezwungen werden, zu erscheinen und dem Magier zu dienen, sondern mit den immanenten Kräften des Menschen, der sie ausübt, oder den Kräften der Gegenstände und Praktiken, die er verwendet. Sie ist nicht Beschwörung, sondern Technik, die ohne Hilfe mächtigerer Wesen aus sich selbst wirkt – in der präziseren Terminologie von Religionsforschern wie Hans-Peter Hasenfratz eigentlich nicht Magie, sondern Zauber. Andere machen da keinen Unterschied, differenzieren aber ebenfalls nach der Beteiligung von Göttern oder Geistern: Wenn eine rituelle Handlung ohne ihr Zutun wirken soll, ist es Magie; wenn man glaubt, dass sie es sind, die etwas bewirken, ist es Religion.
Das heißt aber in jedem Fall, dass Religion und Magie zwei grundverschiedene Bereiche sind, die im historischen Heidentum denn auch ihren je eigenen Platz und je eigene Fachleute hatten: seiðkona (Magierin) und seiðmaðr (Magier) oder althochdeutsch zoubrara (Zauberin) und zaubrari (Zauberer) für magische Aufgaben und goði (“Priester”) und gyðja (“Priesterin”) bzw. cotinc, bluostrari usw. für die religiösen Rituale, die zwar manchmal und bei speziellem Bedarf auch magische Elemente enthalten und sich magischer Mittel bedienen können, aber nicht an sich Magie sind. Wenn in esoterisch angehauchten Kreisen gerne von “magischer Religion” die Rede ist, hat das also weder mit echtem Heidentum zu tun noch ergibt es religionswissenschaftlich überhaupt einen Sinn.
Religiöse Rituale dienen schließlich auch nicht dazu, die Teilnehmer auf einen Weg der Erkenntnis, Einweihung oder Erleuchtung zu führen. Das sind esoterische Deutungen, die erst in moderner Zeit entstanden sind und ihren Ursprung in Mysterienkulten von außerhalb des germanischen Raums haben. Sie mögen auf spezialisierte Einweihungsformen wie die höhere Runenkunst zutreffen, doch mit der allgemeinen Religionsausübung – etwa zu den Jahresfesten – haben sie nichts zu tun.
Das religiöse Ritual ist weder magische Energiearbeit noch mystische Einweihung, sondern ein kultisches Fest. Es ist ein Akt der Verehrung der Götter und eine Begegnung mit ihnen auf der Basis feierlicher Gemeinschaft und wurde daher von unseren Vorfahren schlicht “Feier” (althochdeutsch Fira) genannt. Man sagte auch, dass man diese Feier “beging” und nannte sie deshalb Bigang.