Das Opfer ist die wichtigste religiöse Handlung des germanischen Heidentums. Es stellt, wie Bernhard Maier schreibt, „in allen alteuropäischen Religionen und damit auch bei den Germanen eine zentrale Form der Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit” dar. Das drückt auch die altnordische Sprache aus, indem sie Heidentum überhaupt blótskapr bzw. blótdómr, wörtlich „Opferschaft” bzw. „Opfertum”, nennt.
Sinn und Hauptregel des Opferns erklärt die Edda im Hávamál-Vers:
„Ey sér til gildis gjöf – Die Gabe will stets Vergeltung.”
Der häufigste germanische Begriff für das Opfer ist daher das Wort „Vergeltung” (ahd. gilt oder gelt, nord. gildi). Das nordische blót bzw. althochdeutsche bluostrar bezeichnet eigentlich das Trankopfer, aber auch das Opfer im allgemeinen. „Opfern” heißt nordisch blóta, althochdeutsch bluozan oder ploazzan und gotisch blotan, was auch allgemein „verehren” bedeutet. Weitere Begriffe sind wie gotisch (ga-)saljan („übergeben, darbringen”) und nordisch senda („senden”).
Alle diese Ausdrucksweisen zeigen, dass im Verständnis des Opfers der Gabentausch und die Übergabe an die Götter im Mittelpunkt standen. Motive, die in esoterischen Opferdeutungen betont werden, etwa eine „magische Stärkung” der Götter oder eine „Transformation”, sind nicht zu belegen. Es fehlt auch jeder Hinweis darauf, dass der Wert oder Sinngehalt eines Opfers an der inneren Einstellung des Opfernden oder daran gemessen wurde, wie schmerzlich es für ihn war, es zu bringen. Das Opfer ist auch keine „Bestechung” oder „Beschwichtigung” der Götter. Es ist ein Geschenk nach dem auch im zwischenmenschlichen Leben geltenden Grundsatz von Gabe und Gegengabe.
Da es eine „Vergeltung” ist, die naturgemäß im Nachhinein erfolgt, wird ein Opfer im allgemeinen als Dank für erhaltene Gaben dargebracht: nach einem Sieg, nach der Geburt eines Kindes, nach der Ernte und zu den übrigen Jahresfesten in erster Linie als Dank für die Gaben der vergangenen Jahreszeit. Opfer können aber auch im Vorhinein als Bittopfer dargebracht oder für den Fall der Erfüllung einer Bitte gelobt werden. Historisch sind auch Opfer bei Weissagungen bezeugt.
Das Trankopfer – Blót / Bluostrar
Geopfert wird vor allem Met oder ein anderer geweihter Opfertrank, z.B. eigenes Festbier, dessen Brauen in alter Zeit bereits Teil des Rituals war. Das Trankopfer, nordisch blót, ahd. bluostrar , ist das wichtigste Opfer, das bei jedem Fest dargebracht wird. Besondere Rituale wie das Sumbel oder Symbel , das zu jedem Anlass abgehalten werden kann, oder das Minni- (Gedächtnis-) Trinken zu Ehren Verstorbener bestehen nur aus einem Trankopfer mit einleitenden Worten, die nordisch formáli (Vorspruch) heißen.
Bei allen Trankopfern weiht der Kultleiter das Horn mit dem Hammerzeichen und dem Spruch „Thor weihe dieses Horn” (diesen Met, diesen Trank o.ä.), spricht sein formáli und gießt zuerst einen Schluck auf die Erde oder in eine mit Erde gefüllte Opferschale und trinkt dann einen Schluck. Danach gibt er mit den Worten „Trink Heil” das Horn in Richtung des Sonnenlaufs (Uhrzeigersinn) an den Nächsten weiter, der „Sei heil” antwortet und ebenso verfährt. Normalerweise kreist das Horn drei Mal. Im VfGH wird die erste Runde zu Ehren der Götter getrunken, die zweite zu Ehren der Ahnen, bei der dritten sind die Segenswünsche frei.
Andere Opfergaben – das Opfermahl
Historisch bezeugt sind die verschiedensten Opfergaben von einfachen Feldfrüchten über Hausrat und Werkzeuge bis hin zu teurem Schmuck und Waffen, Tieren und sogar Menschen. Funde aus Opfermooren haben gezeigt, dass Menschenopfer äußerst selten waren: in Skedemose (Schweden) 38 in 500 Jahren, in Oberdorla (Thüringen) 40 in 1000 Jahren.
Tieropfer dagegen sind durch Tausende von Funden bezeugt und fanden regulär statt. Nur selten waren sie aber reine Geschenke an die Götter, in der Regel wurden Tiere geopfert, um sie für das Opfermahl (ahd. gouma) zuzubereiten. Daher war das Wort für Opfertier ahd. zebar, altengl. tifer und gotisch tibr, d.h. „essbares Tier”. Das gotische Wort sauþs für Opfer kommt daher, dass das Fleisch in Kesseln gesotten wurde. Die Opferteilnehmer heißen daher auf Schwedisch suðnautar, Sudgenossen.
Ein Opfermahl ist ein Festbankett, das zu Ehren der Götter gegeben wird. Wir laden sie ein, mit uns gemeinsam zu essen, um sie damit zu ehren und das band zwischen ihnen und uns zu stärken. Wie beim Trankopfer wird ein Teil der Speisen geopfert und der Rest von den Festteilnehmern gegessen. Traditionell ist das heiligste Opfertier das Pferd, dessen Fleisch vermutlich überhaupt nur beim Opfermahl gegessen wurde, weshalb die Kirche im Jahr 732 den Genuss von Pferdefleisch verboten hat.
Anders als in alter Zeit, als jede Familie selbst schlachtete und den Anblick gewohnt war, wären blutige Opfer am Altar heute für die meisten von uns erschreckend. Außerdem feiern wir nicht in so großen Gruppen, dass wir gleich ein ganzes Pferd verdrücken könnten. Daher kaufen wir das Fleisch für das Opfermahl beim Metzger und bringen im Ritual selbst nur unblutige Opfer dar, z.B. Früchte, bunte Eier zu Ostara, Wertgegenstände, Blumenkränze oder Gebildbrote in Form von Tieren oder Symbolen. Solche „Bilder aus Backwerk” sind schon aus dem 8. Jh. als heidnische Opfergaben bezeugt.
Grundform der Rituale aller Religionen ist, dass man zu den Göttern betet und sie anruft. „Die Angerufenen” ist die Bedeutung des indogermanischen Partizips *ghutom, von dem sich das germanische Wort goth (sächlich Mehrzahl – die Götter) ableitet: Sie zeigen sich uns, wenn wir sie anrufen, d.h. zuallererst: mit ihren Namen benennen.
Eine Anrufung ist noch kein Gebet. Sie wird am Anfang eines Gebets oder für sich allein am Anfang eines längeren Rituals gesprochen, wenn wir die Götter nennen, die wir damit verehren wollen, sie begrüßen und einladen, mit uns zu feiern. Die einfachste traditionelle Form ist ein schlichter Heilgruß, mit dem z.B. das Gebet Sigrdrifas in der Edda beginnt. Erweitern kann man sie mit ehrenden Beinamen und Funktionsbezeichnungen, z.B. „Heil Thor, Midgards Schützer”, oder indem man besondere Segnungen und Taten einer Gottheit erwähnt. Dadurch kann die Anrufung nahtlos ins Gebet übergehen.
Das Gebet ist in der germanischen Tradition keine „Anbetung” im Sinn einer demütigen Lobpreisung und Unterwerfung. Die Götter werden zwar gerühmt, wie z.B. Odin im Gebet aus dem Hyndlalied, das seine Segnungen aufzählt, doch man spricht nicht unterwürfig zu ihnen, sondern mit freier Würde – nur so sind wir des Gesprächs mit den Göttern würdig.
Gebete kann man sowohl als Bitt- als auch als Dankgebete sprechen. Viele halten Dankgebete für edler und sehen auch das Beten nach dem Edda-Grundsatz „Die Gabe will stets Vergeltung” als edine Ehre, die man den Göttern als Dank für ihre Gaben erweist. Etymologisch kommt „Gebet” aber von „bitten”, sodass die häufigere Form bei unseren Ahnen wohl doch das Bittgebet war.
Gebetshaltungen
Laut Tacitus beteten unsere Vorfahren „mit zum Himmel erhobenen Augen und Händen”. Die kleine römische Bronzefigur des „betenden Sueben” zeigt den Mann außerdem auf einem Bein knieend. Ebenfalls zu knien scheint ein Germane auf der Marcus-Säule in Rom, der während eines römischen Überfalls auf sein Dorf offenbar die Götter um Hilfe ruft und dabei außerdem die Hände faltet. Diese Geste, die im Mittelmeerraum unbekannt war, ist laut Rudolf Simek erst von den Germanen ins Christentum gekommen und war ursprünglich heidnisch. Sie ist heute aber derart „christlich belegt”, dass wir sie nicht mehr verwenden, ebenso wie das Knien. Stolz und aufrecht stehen wir „mit zum Himmel erhobenen Augen und Händen” vor den Göttern, häufig in der Haltung der Algiz-Rune.
Aufbau eines Gebets
Die wenigen überlieferten Gebetstexte zeigen einen sehr variablen, im Prinzip aber einheitlichen Aufbau, der einer einfachen Logik folgt: Zuerst werden die Gottheiten, an die man sich wendet, mit ihren Namen und eventuell Funktionen und Beinamen und mit einem Heilgruß angerufen, erst danach spricht man konkret Bitte oder Dank aus.
Daraus hat sich als typische Form das zweiteilige Gebet entwickelt, das am deutlichsten, wenn auch in verchristlichter Form, im Wessobrunner Gebet aus dem frühen 9. Jh. in bairischem Althochdeutsch erhalten ist. Es besteht im ersten Teil aus einem Zitat eines Weltanfangs-Gedichts, das z.T. wörtlich mit der Völsupá überein stimmt und vielleicht ihr direktes Vorbild war. Erst im zweiten Teil werden in Prosa konkrete Bitten ausgesprochen. Auch das Gebet aus dem Hyndlalied scheint der erste Teil eines zweigliedrigen Gebets zu sein, das in der Praxis je nach Anlass mit konkreten Bitten oder Danksagungen ergänzt wurde. Viele Zaubersprüche sind ebenfalls so aufgebaut, dass erst nach einem mythischen Erzählteil die eigentliche Zauberformel gesprochen wird.
Der Religionsforscher Karl Helm vermutet, dass der erste, erzählende Teil spill oder spell (wie im Englischen heute noch der Zauberspruch) genannt wurde, was ursprünglich „Aussage, Erzählung” bedeutet, und nur der zweite, bittende Teil „Gebet” oder ahd. gibet hieß.
Wegen seiner Anlassbezogenheit war das gibet wohl jedesmal neu und spontan, während das spill feste, poetische Formen annahm. Jan de Vries erklärt die für die nordische Dichtung typischen kenningar aus der kultischen Sprache: Aus den hymnischen Zubenennungen der Götter – wie etwa „Schützer Midgards” oder „Riesentöter” für Thor – wurden feststehende poetische Umschreibungen, die dann allgemein verwendet wurden. In Snorri Sturlusons Skáldskaparmál, jenem Teil der Jüngeren Edda, der die Sprache der Dichtung behandelt, sind einige Fragmente überliefert, aus denen man sich ein Bild über die nordischen Götterhymnen machen kann.
Besser nicht gebetet als zuviel geboten
Allgemein gilt der Hávamál-Satz „Besser nicht gebetet als zuviel geboten” sowohl für Gebete, bei denen man Opfer anbietet, als auch für solche, deren Gabe an die Götter „nur” ehrende Worte sind. Überschwang und Schmeichelei sind der germanischen Tradition fremd. Man sollte die Götter auch nicht um Dinge bitten, die man ohne ihre Hilfe genauso gut erreichen kann. Es ist nicht ihre Aufgabe, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern. Wir brauchen auch nicht zu fürchten, zu wenig an die Götter zu denken, wenn wir in den Dingen des Alltags „auf unsere eigene Macht und Stärke vertrauen”, wie die Wikinger sagten, denn diese Macht und Stärke (mátt ok meginn) kommt letztlich von ihnen und wurde uns gegeben, damit wir von ihr Gebrauch machen.
Germanische Heiden beten daher weniger als Angehörige mancher anderer Religionen, mit spröderen Worten und, wie schon ausgeführt, ohne Demut und Unterwürfigkeit, aber keineswegs weniger ehrlich und inbrünstig. Je seltener das Gebet, je wichtiger sein Anlass und je klarer und geradliniger seine Worte sind, umso wertvoller ist es auch.